Ewige Anleihen könnten die Europäische Union retten
Mai 22, 2020Wie lange wird der durch das Coronavirus verursachte Schaden an der Wirtschaft der Eurozone anhalten?
Länger als die meisten Menschen glauben. Eines der Probleme besteht darin, dass sich das Virus rasant weiterentwickelt und die Art und Weise, wie es menschliche Organe angreift, verändert. Dadurch wird es viel schwieriger, einen zuverlässigen Impfstoff zu entwickeln. Das könnte wiederum bedeuten, dass wir noch mehrere Infektionswellen erleben werden, bevor eine Regeneration eintritt.
Sie plädieren für die Ausgabe von „ewigen Anleihen“. Warum wäre dies eine bessere Lösung als Corona-Bonds? Und welche Risiken birgt die Ausgabe von ewigen Anleihen?
Die europäische Bevölkerung und ihre politischen Entscheidungsträger sind mit den ewigen Anleihen oder „Consols“, wie ich sie jetzt eher bezeichnen möchte, nicht vertraut. In Großbritannien und den USA sind Consols jedoch seit langem vertraut. Mit beiden Ländern verbinden sie eine lange Geschichte. Im Vereinigten Königreich wurden sie unter anderem zur Finanzierung der Kriege gegen Napoleon und zur Finanzierung des Ersten Weltkriegs herangezogen. In den Vereinigten Staaten wurden sie in den 1870er Jahren eingeführt.
Wie der Name schon sagt, muss der Kapitalbetrag einer ewigen Anleihe nie zurückgezahlt werden; es fallen lediglich die jährlichen Zinszahlungen an. Eine Anleihe in Höhe von einer Billion Euro würde bei einem angenommenen Zinssatz von 0,5% jährlich 5 Milliarden Euro kosten. Die Consols müssten nicht alle zugleich verkauft werden; sie könnten in Tranchen ausgegeben werden, so dass sie von langfristigen Investoren wie Lebensversicherungsgesellschaften auf der Suche nach langfristigen Anleihen zur Deckung ihrer Verbindlichkeiten aufgegriffen würden. In dem Maße, wie sich die Märkte mit den neuen Instrumentarien vertraut machen, dürften spätere Tranchen eine größere Anzahl von Käufern anziehen, und schließlich würden die Anleihen eine Prämie einbringen. Der Zeitpunkt für die Ausgabe langfristiger Anleihen ist jetzt sehr günstig. Deutschland hat kürzlich eine 30-jährige Staatsanleihe mit einer negativen Rendite verkauft.
Leider wurde mein Vorschlag für ewige Anleihen („perpetual bonds“) mit „Corona-Bonds“ durcheinander geworfen, die nichts miteinander gemein haben. Das hat die Debatte vergiftet. Corona-Bonds wurden entschieden abgelehnt, und das aus gutem Grund, da sie einen Grad an gemeinschaftlicher Verlustdeckung erfordern, die schlichtweg nicht akzeptabel ist.
Daher spreche ich jetzt von „Consols“. Die einzige beiderseitige Verpflichtung ist die Zahlung der jährlichen Zinsen, die verschwindend gering sind. 5 Milliarden Euro jährlich sichern eine dringend benötigte Billion Euro – ein ungemein günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis von 1:200! Dieser Grad gemeinschaftlicher Haftung sollte von den Mitgliedsstaaten entweder einstimmig oder von einer Koalition der Willigen ohne weiteres zu akzeptieren sein.
Verständlicherweise wollen die so genannten Hanse-Länder, etwa die Niederlande, ihren Beitrag zum europäischen Haushalt auf ein Minimum beschränken. Sie stehen derzeit jedoch vor der Wahl: Sie können sich weiterhin gegen Consols stellen und eine Verdoppelung des Budgets akzeptieren oder sie können engagierte Befürworter von Consols werden und im Erfolgsfall ihren Beitrag zum Haushalt um 5% erhöhen. Ich appelliere an die Hanse und die niederländische Öffentlichkeit, darüber nachzudenken, welche der Alternativen die vorteilhaftere ist.
Gibt es für die EU keine rechtlichen Hindernisse bei der Ausgabe von ewigen Anleihen oder Consols, wie Sie sie nennen?
Doch, die gibt es, und sie erscheinen zunächst einmal unüberwindbar. Die EU muss ein AAA-Rating aufrechterhalten, sonst wären die Anleihen unverkäuflich. Das setzt voraus, dass die EU über so genannte ausreichende „Eigenmittel“ verfügt – Steuern, die zur Deckung der Kosten für die Bedienung der Anleihen erhoben werden können. Die Einführung von Steuern ist ein langwieriger Prozess, denn jedes Land hat seine eigenen Regeln, und in einigen Ländern wie Belgien sind die Regeln sehr kompliziert. Der Prozess würde mehrere Jahre dauern; daher sagte ich, dass die rechtlichen Hindernisse unüberwindbar scheinen.
Aber es gibt eine Lösung. Die Steuern müssen nur genehmigt werden; sie müssen nicht eingeführt werden. Die Genehmigung sollte ein paar Wochen dauern, nicht ein paar Jahre. Sobald sie genehmigt sind, könnte die EU fortfahren und ewige Anleihen bzw. Consols ausgeben. Ewige Anleihen haben einen enormen Vorteil gegenüber Anleihen mit Fälligkeitsdatum. Wie ihr Name schon sagt, muss das Grundkapital nie zurückgezahlt werden; es sind nur die jährlichen Zinsen zu zahlen. Wie ich bereits erwähnt habe, ist dieser Betrag so verschwindend gering, dass er von den Mitgliedsstaaten problemlos übernommen werden könnte. Besonders attraktiv dürfte er für die von den Niederlanden geführte Hanse sein. Deshalb sollte die Hanse diesen Weg mit Begeisterung annehmen. In Deutschland ist Angela Merkel nach wie vor Bundeskanzlerin; sie ist die einzige Person, die das ordoliberale Establishment umstimmen kann. Mit ihrer Unterstützung ist es noch möglich, dass der für den 27. Mai erwartete Euro-Gipfel Consols als eine wünschenswerte Alternative in Betracht zieht. Aber die Zeit ist äußerst knapp. Ein bislang völlig unbekanntes Instrument muss verstanden und angewandt werden.
Was geschieht, wenn Ihr Lösungsvorschlag nicht angenommen wird?
Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Ewige Anleihen bzw. Consols sind eine solche Maßnahme. In normalen Zeiten sollten sie nicht einmal in Betracht gezogen werden. Doch wenn die EU nicht in der Lage ist, sie jetzt in Betracht zu ziehen, wird sie die derzeitigen Herausforderungen möglicherweise nicht überstehen können. Dies ist keine rein theoretische Überlegung; es könnte die dramatische Realität sein. Das Coronavirus und der Klimawandel bedrohen nicht nur das Leben der Menschen, sondern das Überleben unserer Zivilisation. Die Europäische Union ist besonders verwundbar, weil sie auf Rechtsstaatlichkeit beruht und die Mühlen der Justiz sprichwörtlich langsam mahlen. Im Gegensatz dazu agiert das Coronavirus sehr schnell und auf unvorhersehbare Weise.
Aus diesem Grund muss die EU ewige Anleihen ausgeben. Die Ausgabe von Anleihen, deren Kosten-Nutzen-Verhältnis 1:200 beträgt, eröffnet einen erstaunlich großen finanzpolitischen Handlungsspielraum. Das auf diese Weise erhaltene Geld muss nicht nach dem so genannten fiskalischen Schlüssel verteilt werden, d.h. nach dem Anteil der Mitgliedstaaten an der EZB. Es kann an diejenigen verteilt werden, die es am dringendsten benötigen. Der größte Teil des Geldes ginge an die Länder des Südens, weil sie am stärksten betroffen sind; innerhalb dieser Länder könnte den Menschen geholfen werden, die am bedürftigsten sind und am meisten gebraucht werden, beispielsweise nicht registrierte Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Ein Teil davon geschieht bereits, aber die zur Verfügung stehenden Geldmittel würden erheblich aufgestockt.
Sie sind ein erklärter Befürworter der „Remain“-Kampagne. Was hätte die EU tun können, um einen Brexit zu verhindern? Und sollte sie andere Mitgliedsstaaten am Austritt aus der Union hindern?
Es bringt nichts, über verschüttete Milch zu klagen. Aber die Frage, wie verhindert werden kann, dass andere Länder dem Beispiel des Vereinigten Königreichs folgen, ist eine wichtige.
Ich bin vor allem wegen Italien besorgt. Matteo Salvini, der Parteivorsitzende der Lega Nord, wirbt dafür, dass sein Land den Euro und die EU verlässt. Glücklicherweise hat seine persönliche Beliebtheit abgenommen, seit er aus der Regierung ausgeschieden ist, doch sein Einsatz gewinnt an Dynamik. Was bliebe von Europa ohne Italien? In der Vergangenheit war Italien das europafreundlichste Land. Die Italiener vertrauten Europa mehr als ihren eigenen Regierungen – und das aus gutem Grund. Doch in der Flüchtlingskrise 2015 hat man sie nicht gut behandelt. Die EU setzte die so genannten Dublin-Verordnungen durch, die sämtliche Belastungen den Ländern aufgebürdet haben, in denen die Flüchtlinge zuerst eintrafen, ohne dass eine finanzielle Kostenteilung angeboten wurde. Das war der Punkt, an dem sich die Italiener dafür entschieden, Salvinis Lega Nord und die Fünf-Sterne-Bewegung erdrutschmäßig zu unterstützen. In jüngerer Zeit war die Lockerung der Regeln für staatliche Beihilfen, die Deutschland begünstigen, besonders ungerecht gegenüber Italien – das ohnehin bereits der kranke Patient Europas und dann auch noch am stärksten von COVID-19 betroffen war.
Sie klingen sehr pessimistisch.
Ganz und gar nicht. Solange ich Konzepte wie die ewigen Anleihen unterstützenswert finde, gebe ich die Hoffnung nicht auf.