Die offene Gesellschaft muss verteidigt werden
Dezember 30, 2016Lange bevor Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, sendete ich meinen Freunden einen Urlaubsgruß der lautete: „Wir befinden uns nicht in Zeiten wie bisher. Wünsche euch das Beste in einer unruhigen Welt.“ Jetzt habe ich das Bedürfnis, diese Botschaft mit dem Rest der Welt zu teilen. Aber bevor ich das tue, muss ich Ihnen sagen, wer ich bin und wofür ich stehe.
Ich bin ein 86-jähriger ungarischer Jude, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum US-Staatsbürger wurde. Bereits in jungen Jahren lernte ich wie wichtig die Art des politischen Regimes ist, das sich durchsetzt. Die prägende Erfahrung meines Lebens war die Besetzung Ungarns durch Hitler-Deutschland in 1944. Hätte mein Vater nicht den Ernst der Lage erkannt, wäre ich wahrscheinlich umgekommen. Er hat die Verwendung falscher Identitäten für seine Familie und viele andere Juden organisiert; und mit seiner Hilfe haben die meisten überlebt.
1947 entfloh ich Ungarn, bis dahin unter kommunistischer Herrschaft, und machte mich auf dem Weg nach England. Als Student der „London School of Economics“ kam ich unter den Einfluss des Philosophen Karl Popper und entwickelte meine eigene Philosophie, die sich auf die zwei Pfeiler von Fehlbarkeit und Reflexivität stützt. Ich unterschied zwischen zwei Arten von politischen Regimen: diejenigen, in denen Menschen ihre Führer wählen, die sich dann um die Interessen der Wählerschaft kümmern, und jene, in denen die Herrscher versuchen ihre Untertanen zu manipulieren, um den Interessen der Herrscher zu dienen. Unter Poppers Einfluss nannte ich die erste Art von Gesellschaft offen und die zweite Art geschlossen.
Die Klassifikation ist zu einfach. Es gibt viele Stufen und Variationen im Laufe der Geschichte, von gut funktionierenden Modellen zu gescheiterten Staaten, und viele verschiedene Regierungsformen in einer speziellen Situation. Und dennoch finde ich die Unterscheidung dieser zwei Regime-Arten nützlich. Ich wurde zu einem aktiven Befürworter der ersten und Gegner der zweiten Art.
Ich finde den geschichtlichen Augenblick gegenwärtig sehr schmerzhaft. Offene Gesellschaften befinden sich in der Krise und verschiedene Formen geschlossener Gesellschaften – von faschistischen Diktaturen zu Mafia-Staaten – mehren sich. Wie konnte das passieren? Die einzige Erklärung, die ich finden kann, scheint darauf hinzudeuten, dass gewählte Führer nicht die berechtigten Erwartungen und Bestrebungen ihrer Wähler erfüllt haben, und dass jenes Versagen dazu führte, dass die Wählerschaft von den vorherrschenden Versionen der Demokratie und des Kapitalismus enttäuscht war. Einfach ausgedrückt, viele Leute waren der Ansicht, dass die Elite ihre Demokratie gestohlen hat.
Nach Zusammenbruch der Sowjetunion, wurden die USA zur einzig verbleibenden Supermacht, die sich gleichermaßen für die Prinzipien der Demokratie und die freie Marktwirtschaft engagierte. Die seither größte Entwicklung war die Globalisierung der Finanzmärkte, geleitet von Befürwortern, die argumentierten, eine Globalisierung steigere das Gesamtvermögen. Schließlich hätten die Gewinner, nach Entschädigung der Verlierer, immer noch etwas übrig.
Das Argument war irreführend, da es die Tatsache ignorierte, dass Gewinner selten, wenn überhaupt je, die Verlierer entschädigen. Aber die potenziellen Gewinner gaben genug Geld für die Unterstützung des Arguments aus und es gewann die Oberhand. Es war ein Sieg für diejenigen, die an eine ungehinderte freie Marktwirtschaft glauben oder „Markt-Fundamentalisten“ wie ich sie nenne. Da Finanzkapital ein unentbehrlicher Bestandteil der Wirtschaftsentwicklung ist und nur wenige Entwicklungsländer ausreichend Eigenkapital erwirtschaften konnten, verbreitete sich die Globalisierung wie ein Lauffeuer. Finanzkapital konnte sich frei bewegen und eine Besteuerung und Regulierung vermeiden.
Die Globalisierung hatte weitreichende wirtschaftliche und politische Folgen. Sie hat zu einer ökonomischen Konvergenz zwischen armen und reichen Ländern geführt; aber sie hat die Ungleichheit innerhalb der armen sowie auch der reichen Länder gesteigert. In den Industrieländern gingen die entstandenen Vorteile hauptsächlich an große Kapitaleigentümer, die weniger als 1 % der Bevölkerung ausmachen. Der Mangel an Umverteilungsprogrammen ist die Hauptquelle der Unzufriedenheit, die von Gegnern der Demokratie ausgenutzt wurden. Aber es gab auch andere Faktoren, die dazu beigetragen haben, besonders in Europa.
Ich war ein begeisterter Verfechter der Europäischen Union seit ihrer Gründung. Sie verkörperte für mich die Idee einer offenen Gesellschaft: ein Zusammenschluss demokratischer Staaten, die bereit waren, einen Teil ihrer Souveränität für das Allgemeinwohl aufzugeben. Sie begann als gewagtes Experiment der „Stückwerk-Sozialtechnik“ wie sie Popper nannte. Die Führer setzten ein erreichbares Ziel, stellten einen festen Zeitplan auf und mobilisierten den politischen Willen, der notwendig war, um den Bedarf zu decken. Sie wussten sehr wohl, dass jeder Schritt einen weiteren Schritt erfordern würde. Auf diese Weise entwickelte sich die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl zur EU.
Aber dann ging bedauerlicherweise etwas schief. Nach dem Börsencrash 2008 wurde ein freiwilliger Zusammenschluss von Gleichberechtigten in eine Beziehung zwischen Gläubigern und Schuldnern umgewandelt, wobei es den Schuldnern schwer fiel ihren Verpflichtungen nachzukommen und die Gläubiger Bedingungen festlegten, die von den Schuldnern befolgt werden mussten. Jene Beziehung war weder freiwillig noch gleichwertig.
Deutschland etablierte sich in Europa als Hegemonialmacht, aber schaffte es nicht den Verpflichtungen nachzukommen, die erfolgreiche Hegemonen erfüllen müssen; nämlich die enge Sichtweite des Eigeninteresses zu überwinden und sich für die Interessen der Menschen einzusetzen, die auf sie angewiesen sind. Vergleichen Sie das Verhalten der USA nach dem Zweiten Weltkrieg mit Deutschlands Verhalten nach dem Börsencrash 2008: die USA starteten den Marshallplan, der zur Entwicklung der EU führte; Deutschland startete ein Sparprogramm, das seinem eigenen begrenzten Interessen diente.
Vor der Wiedervereinigung war Deutschland die treibende Kraft der europäischen Integration: es bestand stets der Wille, denjenigen ein bisschen mehr entgegenzukommen, die Widerstand leisteten. Erinnern Sie sich noch an Deutschlands Beitrag, Margret Thatchers Anforderungen zu erfüllen, hinsichtlich des EU-Budgets?
Aber Deutschland auf einer 1:1-Basis wieder zu vereinigen stellte sich als sehr teuer heraus. Als Lehman Brothers zusammenbrach, fühlte sich Deutschland nicht reich genug, um zusätzliche Verpflichtungen anzunehmen. Als die europäischen Finanzminister erklärten, dass kein weiteres systematisch wichtiges Geldinstitut scheitern darf, erklärte die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, nach korrekter Interpretation der Wünsche ihrer Wählerschaft, dass jeder Mitgliedstaat sich um seine eigenen Institute kümmern sollte. Das war der Beginn des Zerfallsprozesses.
Nach dem Börsencrash 2008 wurden die EU und die Eurozone immer mehr zerrüttet. Vorherrschende Bedingungen entfernten sich mehr und mehr von den Vorgaben des Maastrichter Vertrags, aber eine Vertragsänderung wurde immer schwieriger und schließlich unmöglich, da sie nicht ratifiziert werden konnte. Die Eurozone wurde zum Opfer antiquierter Gesetze und dringend benötigte Reformen konnten nur umgesetzt werden durch das Auffinden von Schlupflöchern in ihnen. Dadurch wurden Institutionen immer komplizierter und die Wählerschaft wurde entfremdet.
Der Anstieg von Anti-EU-Bewegungen erschwerte die Funktionsfähigkeit von Institutionen noch mehr. Und diese Kräfte des Zerfalls erhielten einen starken Impuls in 2016; zuerst von Brexit, dann von der Wahl von Trump in den USA und am 4. Dezember von den italienischen Wählern, die Verfassungsreformen deutlich zurückwiesen.
Die Demokratie ist jetzt in einer Krise. Selbst die USA, die führende Demokratie der Welt, wählte einen Betrüger und Möchtegern-Diktator zum Präsidenten. Obwohl Trump die Rhetorik seit seinem Amtsantritt etwas abgemildert hat, hat er weder sein Verhalten noch seine Berater geändert. Sein Kabinett besteht aus inkompetenten Extremisten und pensionierten Generälen.
Was liegt vor uns?
Ich bin zuversichtlich, dass sich die US-Demokratie als robust erweisen wird. Ihre Verfassung und Institutionen, einschließlich der Presse, sind stark genug, um den Exzessen der Exekutive standzuhalten, wodurch verhindert wird, dass ein Möchtegern-Diktator tatsächlich zu einem wird.
Aber die USA werden in nächster Zukunft mit internen Kämpfen beschäftigt sein und ins Fadenkreuz genommene Minderheiten werden leiden. Die USA werden nicht in der Lage sein, Demokratie in der restlichen Welt zu schützen und zu fördern. Trump wird vielmehr eine größere Affinität mit Diktatoren haben. Einigen davon wird es möglich sein mit den USA ein Übereinkommen zu erzielen, andere werden in der Lage sein ungestört fortzufahren. Trump wird es vorziehen Geschäfte abzuschließen anstatt Grundsätze zu verteidigen. Unglücklicherweise wird das bei seiner Stammwählerschaft populär sein.
Ich mache mir besonders über das Schicksal der EU Sorgen, da sie gefährdet ist unter den Einfluss des russischen Präsidenten, Wladimir Putin, zu geraten, dessen Konzept einer Regierung mit dem einer offenen Gesellschaft unvereinbar ist. Putin ist kein passiver Begünstigter der jüngsten Entwicklungen; er hat schwer daran gearbeitet, diese zustande zu bringen. Er hat die Schwäche seines Regimes erkannt: Es kann natürliche Ressourcen ausbeuten, aber kein wirtschaftliches Wachstum schaffen. Er fühlte sich bedroht von den „farbigen Revolutionen“ in Georgien, der Ukraine und anderswo. Zuerst versuchte er die sozialen Medien zu kontrollieren. Dann hat er mit einem genialen Schachzug das Geschäftsmodell der Social Media-Unternehmen benutzt, um Fehlinformationen und Falschmeldungen zu verbreiten, Wählerschaften zu verwirren und Demokratien zu destabilisieren. Auf diese Weise hat er den Wahlsieg von Trump unterstützt.
Das gleiche dürfte im europäischen Wahlkampf 2017, in den Niederlanden, Deutschland und Italien, passieren. Die zwei führenden Kandidaten in Frankreich stehen Putin nahe und sind darum bemüht ihn zu besänftigen. Wenn einer von ihnen gewinnt, wird Putins Dominanz in Europa eine vollendete Tatsache sein.
Ich hoffe, dass die Führer und Bürger Europas gleichermaßen realisieren, dass dies ihre Lebensweise gefährdet sowie die Werte, die der Gründung der EU zu Grunde liegen. Das Problem liegt darin, dass die von Putin verwendete Methode zur Destabilisierung der Demokratie nicht dazu verwendet werden kann, Respekt für Fakten und eine ausgewogene Sicht der Realität wieder herzustellen.
Mit einem Wirtschaftswachstum das hinterherhinkt und einer Flüchtlingskrise die außer Kontrolle ist, steht die EU kurz vor einem Zusammenbruch und wird eine ähnliche Erfahrung machen, wie die Sowjetunion in den frühen 90er Jahren. Diejenigen die glauben, dass die EU gerettet werden muss, um eine Neugestaltung zu erleben, müssen alles ihnen Mögliche tun, um ein besseres Ergebnis herbeizuführen.